Vom Schäfersberg zum Mount Kilimanjaro – Karibu Tanzania!
Zwei aus Niedernhausen erklimmen gemeinsam den Kilimanjaro – ein Tagebuch.
Jambo! – Vorgestern noch im verschneiten Taunus-Wald und heute schon im tropischen Regenwald. Jetzt hat sich die fast zweijährige Vorbereitung zu bewähren. Am Fuße des Kilimanjaro warten wir, meine Frau Jutta und ich, auf unseren Guide, der nach irgendwo hin verschwunden ist, um die letzten Formalitäten für unseren Aufstieg zu regeln.
Die unruhig geschäftigen letzten Wochen vor der Verwirklichung meines Jugendtraumes erscheinen mir schon so weit zurück. Wir sind beide in der zweiten Hälfte des fünften Lebensjahrzehnts und wagen jetzt dieses Abenteuer. In den wenigen Minuten kurz vor Beginn unseres Aufstieges bin ich erstaunlich ruhig und entspannt. Während ich das quirlige Treiben der Porter unterhalb der Terrasse des Marangu Gates beobachte, gehe ich in Gedanken zurück an den Anfang unseres Unternehmens.
Verlockung, Vorbereitung und Verwirklichung
Auf unserer letzten Safari in Tanzania träumte ich vom Aufstieg auf den höchsten Berg Afrikas. Mein Wunsch wurde noch dadurch verstärkt, dass er sich partout nicht zeigte. Auf allen unseren Fahrten verbarg dieser mythische Berg meiner Träume seinen Gipfel hinter dichten Wolken. Manchmal konnten wir gerade mal seinen viel kleineren Nachbarn sehen, den Mount Meru. Doch er selbst blieb verborgen, zeigte sich nicht. Auf unserem Rückflug von Arusha nach Hause bestaunten wir dann doch noch den Krater aus dem Flugzeug heraus. Seine noch verbliebenen weißen Gletscherkappen wollte ich aus der Nähe gesehen haben, bevor sie restlos abgeschmolzen sein werden. Dann stand es fest: „Jutta, da oben will ich hin. Wir werden gemeinsam den Kilimanjaro besteigen.“
Im Frühjahr des folgenden Jahres begannen wir mit unseren Vorbereitungen. Wir haben alles gelesen, was für uns erreichbar war und mit unserem großen Vorhaben zu tun hatte. Zuerst intensivierten wir wieder unsere sportlichen Aktivitäten. Der Schäfersberg, unser Hausberg, Hammerkopf, Nickel und die anderen umliegenden Taunusberge wurden unsere Trainingsgebiete. Im Sommer kam das schön gelegene Niedernhausener Waldschwimmbad noch hinzu. Zum Ende unserer Vorbereitungszeit stürmten wir den 512 Meter hohen Nickel hinauf und ein paar Kilometer Schwimmen in der Woche gehörten zu unserem Alltag.
Nur die richtigen Höhen, die machten uns noch Sorgen. Wo könnten wir denn unsere verborgenen bergsteigerischen Talente erproben? Außer mal auf der Zugspitze oder auf der Touristenstation des Mont Blanc Massives hatten wir kaum akzeptable Höhenluft geschnuppert. Wir wussten nicht, wie wir in der Höhe reagieren.
In Rofen in Tirol auf dem Geierwally Hof auf 2014 Meter Höhe fanden wir bei Hubert und seiner Familie ein freundliches und sachkundiges Trainingsteam. Zur Guslarspitze, zu Ötzis Fundstelle in der Nähe des Similaun und zu anderen Gipfeln und Hütten im näheren Umkreis der Rofenhöfe lernten wir unter Huberts Anleitung kräftesparendes Bergwandern in 3000 Meter Höhe. Tausend Höhenmeter pro Tag waren am Ende unseres herbstlichen Kurzurlaubs kein Problem mehr für uns. Wir sollten uns später bei unserem Aufstieg noch häufig und dankbar an Hubert erinnern.
Unsere Kondition hatten wir stetig auf- und ausgebaut. Begleitend zu unseren sportlichen Aktionen vernachlässigten wir nicht unsere medizinische Vorbereitung. Unsere körperliche Verfassung und Trainingsfortschritte ließen wir periodisch überprüfen und richteten je nach Ergebnis Intensität und Art unsere sportliche Vorbereitung aus.
Drei Wochen vor der Abreise hatten wir uns noch eine Grippe eingehandelt. Sollten nun alle Bemühungen umsonst gewesen sein? Nicht genug damit. Um den durch unsere Infekte vermuteten Trainingsrückstand aufzuholen, verschärften wir unser tägliches Training. Doch das war zu viel.
Juttas Knochenhautentzündung am linken Knie vier Tage vor der Abreise hätte fast das endgültige Aus bedeutet. Die moderne Medizin, die sachkundige und fürsorgliche Hilfe unseres Hausarztes und unser gemeinsamer Wille schafften auch das. Mit den letzten Tests kurz vor unserer Abreise waren letzte Zweifel beseitigt. Dr. Fischer, unser Arzt, war zufrieden und zerstreute unsere Sorgen. Jetzt konnten wir endgültig packen!
In den letzten Monaten vervollständigten wir unsere Ausrüstung Stück für Stück. In Tirol hatten wir einige Ausrüstungsgegenstände schon ausgiebig getestet. Die Schuhe waren in Ordnung, auch die Oberbekleidung, Funktionsunterwäsche und Socken. Die Rucksäcke erwiesen sich als untauglich und die Regenkleidung war zu schwer. Das wurde noch ersetzt, ergänzt um handliche Seesäcke, weitere Trinkflaschen, warme Handschuhe, Teleskopbergstöcke, Stirnlampen und sonstige wichtigen Kleinigkeiten. Ein Trinksystem sortierten wir wieder aus. Dann noch die Schlafsäcke besorgen und die leichten, selbstaufblasbaren Matten nicht vergessen. Die Matten sollten wir später gar nicht benötigen.
Im jetzt freien Zimmer unserer Tochter lag nach vielfältigen Überprüfungen und Umsortierungen alles ausgebreitet zur Abreise bereit. Jutta mit ihrem auch zum Beruf erkorenen organisatorischen Talent packte getrennt für jeden Aufstiegstag unsere umfangreiche Ausrüstung in unsere Reisetaschen. Für die nach der Bergbesteigung geplante Kurz-Safari war das Gepäck auch noch zu verstauen. Die dicken Jacken und die dann sicher verschwitzten Hemden werden wir nicht im Busch tragen können. Wie sollten wir das alles nur nach Afrika bekommen? Gegen einen kräftigen Aufschlag zum Flugpreis hatte uns die KLM dann später diese Frage beantwortet.
Karibu Tanzania – Willkommen in Afrika
Unser Flug über Amsterdam nach Tanzania verlief fast reibungslos und angenehm. Die bis wenige Minuten vor dem Abflug ausgebliebene Ansage des Gate-Wechsels war schon wieder vergessen. Unter uns konnten wir die verschneiten Alpen bewundern. Später bestaunten wir die schier endlose Sahara mit ihren deutlich erkennbaren Gebirgen, Straßen und Oasen. Bei unserer Ankunft am Abend in Arusha hatten wir noch 25 Grad plus und das nach Minusgraden zu Hause. Unsere bewährte Reiseagentur brachte uns in Moshi im Key’s Hotel unter.
Buchen Sie nie das Zimmer 115! Sie werden bis spät in die Nacht die exotischen Gerüche der Küche genießen können. Das Geklapper der Töpfe und Pfannen wird Sie zusammen mit den unverständlichen Unterhaltungen der Köche in den Schlaf der ersten Nacht in Afrika begleiten. Nur der sternenklare Himmel kann Sie für die folgende kurze Nacht etwas entschädigen. Mit dem Sonnenaufgang erwacht auch wieder die Küche.
Erschöpft vom Flug und ohne eine Erfrischung bezogen wir das Zimmer 115, kämpften noch etwas mit den zu kurzen Moskitonetzen über unseren Betten und schliefen dann rasch ein. Nach dem Frühstück im uns als rustikal avisierten Hotel, es war wirklich so rustikal wie ein Landgasthof an einer unserer heimischen Fernstraßen, verwandelte Jutta unser Zimmer in ein Warenlager für Expeditionsreisen.
Jutta sortierte unser Gepäck nach Bergbesteigung und Safari. Mit ihren vorbereiteten Zetteln wurde wieder wie zu Hause für jeden von uns das Aufstiegsgepäck in umgekehrter Reihenfolge in unseren Seesäcken verstaut. Oben drauf kam noch eine leichte Tasche für die Schmutzwäsche. Der verbliebene Rest kam zurück in die Reisetaschen und wurde im Hotel deponiert, zusammen mit meiner Fotoausrüstung. Für den Aufstieg sollte die Kamera mit dem Standardobjektiv und einigen Filmen ausreichen, das war schwer genug.
Den verbleibenden Tag verbrachten wir im schattigen Garten am Pool. Einigen Gästen konnten wir ansehen, die sind schon oben gewesen. Mit schlafwandlerischer Sicherheit, bekleidet nur mit Hose und T-Shirt, die Slipper kurz vor dem Pool von den Füßen gestreift, ging einer von ihnen mit unbeweglicher Miene schnurstracks über den Rand des Beckens in das warme Wasser des Pools, kam prustend wieder hoch und setzte sich schweigend auf den Rand des Beckens. Warum ging eine der Frauen nur so staksig und seitwärts die wenigen Stufen zur Terrasse hinauf? War sie etwa auch schon „oben“ gewesen? Bei der anderen Gruppe konnten wir sicher sein: das zufriedene Lächeln, die auffälligen T-Shirts mit der Aufschrift „We have done it!“ bestätigten es. Sie hatten es geschafft. Am Nachmittag versammelte sich ihre vielköpfige Trägertruppe unterhalb der Terrasse und stimmte unter Anleitung ihres Guides einen vielstimmigen und doch melodischen Gesang an. Aus jedem Blickwinkel wurde fotografiert. Das Trinkgeld ist wohl üppig gewesen, denn es folgten noch mehrere Zugaben.
Drei junge Engländer genossen die Sonne und vergnügten sich unbeschwert planschend im Pool. Sie sollten am nächsten Tag auch zum Gipfel aufsteigen, über die beschwerliche Machame-Route. Auf dieser Route sind Kletterfähigkeiten gefordert und es wird in Zelten übernachtet. Diese Route wird unter Kennern als „Whisky-Route“ bezeichnet. Wir hatten keine Klettererfahrung und wollten sie auch nicht mehr erwerben. Wir wählten die dafür längere Marangu Route, die Coca-Cola-Route mit ihren festen Hütten.
Nach einer weiteren Nacht, umfangen von den Geräuschen des Hotels und den Gerüchen seiner Küche wurden wir kurz nach Morgengrauen von den Rufen des Muezzins der nahen Moschee geweckt. Nach unserer Rückkehr sollten wir uns um ein anderes Zimmer kümmern. Versorgt mit dem typischen Frühstück des Key’s Hotels, scrambled eggs für zwei Dollar extra, brachten wir unsere Seesäcke zum Bus. Zusammen mit dem Gepäck dreier weiterer Gäste verzurrten dienstbare Helfer auch unsere Seesäcke und Taschen mit den Schlafsäcken auf dem Dach des Busses. Hinter den vorderen Sitzen türmten sich große Bastkörbe und weitere Plastiksäcke und Taschen, die Ausrüstung der Träger und unser Proviant für die nächsten Tage. Vollgepackt schaukelte der Bus durch die großen Schlaglöcher der Nebenstraßen. Wir verließen Moshi in strahlendem Sonnenschein. Endlich, jetzt konnte ich ihn sehen. Der schneebedeckte Gipfel des Kilimanjaro strahlte über einem hellen Wolkenkranz im Lichte der Morgensonne.
Darauf hatte ich lange gewartet. Jetzt konnte ich kaum meine ehrfürchtigen und bewundernden Blicke von diesem herrlichen Bild abwenden. Das bunte Treiben rechts und links der Straße nahm ich nur flüchtig auf. Immer wieder schaute ich fasziniert auf diesen legendären Berg. In meinem Blickfeld links vorn saß einer der Beifahrer, der auch das Bergmassiv beobachtete. Seine Augen wandten sich vom Berg ab und der Ausrüstung und unserem Proviant zu. In seinen Blicken zurück über die Schulter zum Gepäck und dann wieder hinauf zum Gipfel, meinte ich, einen sorgenvoll abschätzenden Ausdruck erkennen zu können. Warum schaute er so besorgt? Oder war es nur die letzte prüfende Begutachtung unserer umfangreichen Ausrüstung? Die großartigen Eindrücke rundum verdrängten meine Beobachtung und ich vertiefte mich wieder in die mächtige Erscheinung dieses gewaltigen und noch fernen Berges.
Wir fuhren auf der asphaltierten breiten Straße in Richtung Himo. Dort bogen wir von der Hauptstraße ab und fuhren langsam den Berg hinauf. Nach der Ortschaft Marangu führte die Straße in Serpentinen zum Marangu Gate und Head Quarter des Kilimanjaro National Parks. In der Ebene, an den unteren Hängen und der gerade passierten Straßenkreuzung waren die Häuser und Hütten ärmlich und teilweise auch etwas schmutzig. Im Verlaufe des Anstiegs wurde die Vegetation üppiger und grüner. Die Plantagen waren gepflegt und die Häuser sahen ordentlich aus. Es lag kein Müll herum. Überall blühten Blumen in den Gärten. Kinder in Schuluniformen kamen aus der Schule. Geschäftiges und buntes Treiben in den Läden rundum in Marangu. Die Menschen hier, die Chaggas, schienen wohlhabender zu sein als die Bewohner der Ebene. Vor einem Haus war ein weißer Sarg am Straßenrand aufgebahrt. Die Menschen gingen ohne erkennbare Scheu um ihn herum. Hier ist der Tod noch Bestandteil des Lebens.
Unser Bus hielt zwischen anderen Fahrzeugen auf dem Parkplatz unterhalb des Head Quarters. Schnell waren unsere Gepäckstücke vom Dach des Busses abgeladen. Einige kräftige dunkle Arme griffen danach und trugen sie unter meiner aufmerksamen Beobachtung an den Rand des Platzes. Wir standen etwas ratlos herum, bis jemand unsere Namen rief. Wir meinten etwas zu hören, was unsere Namen hätten sein können. Charles, unser Guide, machte sich mit uns bekannt, rief seinen Helfern etwas zu und ließ unser Gepäck und unsere übrige Ausrüstung auf unsere vier Träger verteilen. In dem Gewimmel konnte ich nicht erkennen, wer zu uns gehören wird. Waren es vier oder fünf Porter, oder gar sechs? Charles lief nervös und zappelig auf dem Platz herum, fragte nach unseren Wasservorräten, wir hatten unsere vier Flaschen im Hotel mit frischem Wasser gefüllt, und er entschied, noch zusätzlich Wasser von uns kaufen zu lassen. Hier kostete das Wasser schon doppelt so viel wie unten im Hotel. Von dem Wechselgeld sollte ich auch nichts mehr wiedersehen. Nach einigen hektischen Anweisungen an unsere Porter stellte er uns seinen Assistant Guide vor, Godlizem. Es war der Beifahrer aus dem Bus. Charles rief uns noch zu, wir sollten zur Reception hoch gehen, er wollte in der Zwischenzeit das Wasser besorgen und würde uns später oben wieder treffen.
Die Treppe zur Reception war steil, die Sonne schon sehr warm und unser Daypack viel zu schwer. Oben angekommen schwitzten wir und atmeten heftig. Wie soll das nur weitergehen, wenn wir jetzt schon außer Puste sind, denke ich und kehre in die Gegenwart zurück. Ich lehne mich im Schatten der Bäume an das Geländer, stütze mein Daypack darauf ab, ohne es abzulegen. Jetzt sind wir also hier. In wenigen Minuten werden wir den Aufstieg beginnen. Ich warte auf Jutta und auch auf Charles. Er ist nicht zu sehen. Er hüpft sicher irgendwo herum. Mir gegenüber kommt eine Schulklasse in ihren adretten Schuluniformen die Treppe herauf. Die Mädchen in weißen Blusen und dunkelgrünen Röcken, die Jungen in weißen Hemden und dunkelblauen Hosen. Auf der vorletzten Stufe bleiben die ersten Mädchen stehen und schauen mich an, den hellhäutigen und seltsam gekleideten Fremden. Die nachdrängenden Schülerinnen füllen jetzt die ganze Treppe aus. Wir schauen uns an und lächeln uns zu. Wie alle jungen Mädchen auf der ganzen Welt fangen sie an zu gibbeln und verstecken sich verlegen hintereinander. Sie tuscheln und lachen und drängeln sich auf den letzten Stufen. Ihre Lehrer sammeln sie schließlich ein und sie gehen an mir vorbei zu ihrem Tagesausflug in die unteren Regionen des Nationalparks.
Regenwald, Popcorn und Hochgebirge
Charles kommt angelaufen, sammelt auch uns ein und wir gehen am Head Quarter vorbei weiter zum Marangu Gate. Am Eingang zum Park treffen wir auf den Assistenten. Bei dem Parkwächter hängen er und die anderen Porter die Säcke und Taschen unserer Ausrüstung an den Haken einer einfachen Zugwaage. Alles was sie für uns mitschleppen wird gewogen. Unsere Aufstiegsgenehmigungen werden sorgfältig geprüft. Schließlich ist alles in Ordnung und wir können unseren Aufstieg beginnen. Charles und die Porter laufen über die mit glatten Feldsteinen befestigte holprige Fahrstraße. Jutta und ich fassen unsere Bergstöcke fester und folgen Godlizem auf dem schmalen Fußweg durch das spitze Törchen zum Regenwald, vorbei an der Abzweigung zu dem kleinen Wasserfall dem Gipfel entgegen.
Unser Führer trägt einen gewaltigen Rucksack und an jedem seiner kräftigen Arme hängen noch zwei schwere Plastiktüten mit Lebensmitteln für die nächsten Tage. Mir würden spätestens nach wenigen Metern die schweren Plastiktüten die Hände abschnüren. Er hält die nächsten vier Stunden tapfer durch.
Der Weg steigt in langgezogenen Stufen steil bergauf. Uns umfängt der tropische Regenwald. Tiefgrün sind Bäume und Pflanzen. Im Geäst der Urwaldbäume ist das Gezwitscher der Vögel zu hören. Ich bekomme aber keine zu sehen. Eine Brücke verkürzt unseren Weg über einen kleinen Gebirgsbach. Aus der Schlucht kommt eine Gruppe Mädchen herauf. In ihren Armen tragen sie frisch geschnittenes Gras oder Kräuter. Ich kann es nicht unterscheiden. Eines der Mädchen blitzt mich mit ihren dunklen Augen im Vorbeigehen von der Seite an. Schüchtern wendet sie kaum ihren Kopf und fragt gerade noch hörbar: „Sweeties, sweeties?“ Ich habe keine Sweeties und zu spät fallen mir unsere Energieriegel ein. Schade.
Mit dem Wetter haben wir großes Glück. Von dem sonst üblichen Regen werden wir verschont und unsere Schuhe bleiben trocken. Der Himmel ist strahlend blau durch einige Löcher des dichten Blätterdaches zu sehen. Auf einem weit ausladenden Ast eines mächtigen Urwaldriesen wächst ein anderer junger Baum. Der grau-grüne Stamm ist vor dem hellblauen Himmel ein fantastischer Anblick. Wir sind begeistert von den vielen bunten Blumen am Wegesrand und den hellgrünen Moosen und Flechten in den Bäumen. Große weiße und schwarz-gelbe Schmetterlinge flattern umher. Die kreischenden Affen kann ich nur schemenhaft in den Zweigen erkennen. Über Wurzeln und steinige Stufen, die nicht immer die von zu Hause gewohnte Tritthöhe haben, schreiten wir fröhlich und unbeschwert hinter unserem Führer hinterher. Huberts Beispiel im Gedächtnis findet Jutta ihr gleichmäßiges kräftesparendes Tempo, welches sie fortan beibehalten wird. Ich wundere mich, sie kann ja auch langsam gehen und folge mit einsatzbereiter Kamera meinen beiden Begleitern.
Nach etwa zwei Stunden und vielen Unterbrechungen für Fotoaufnahmen und neugierige Betrachtungen der näheren Umgebung des immer noch steilen und holprigen Weges stoßen wir auf eine breite Fahrstraße. Hier machen wir die erste Rast. Im Umfeld der Kreuzung lagern schon die Porter anderer Gruppen und die dazugehörigen Bergsteiger. Fröhliches Schwatzen und Scherzen der Porter dort, aufmerksam vorsichtiges Beobachten der Touristen hier. Wir mischen uns dazwischen. Godlizem sitzt etwas abseits am Rande der Straße. Wir suchen einen Tisch und setzen uns auf eine Bank. Nach den ersten Anstrengungen ist das Essen schnell verputzt. Das mitgebrachte Wasser schmeckt vorzüglich.
Nach kurzer Rast bereiten wir uns auf den weiteren Aufstieg vor. Plötzlich spüre ich einen heftigen Schmerz an meiner linken Hand. Eine Ameise ist wohl von einem der umstehenden Büsche auf meine Hand geflogen. Sie verbeißt sich sofort in meinen Zeigefinger. Ich kann sie nicht abstreifen. Nach heftigem Schütteln der Hand und hastigen Abstreifversuchen fällt der hintere Körper in zwei Teilen herab. Der Kopf hängt immer noch an meinem Finger und ich habe stechende Schmerzen. Endlich kann ich auch den Kopf abstreifen und Blut schießt aus der kleinen Wunde.
Wozu schleppe ich eine halbe Apotheke mit mir herum? Jutta versorgt mich fachgerecht, es piekst etwas und dann habe ich es überstanden. Nach diesem aufregenden Intermezzo brechen wir auf und setzen unseren Weg durch den Regenwald fort. Kurze Zeit später schreit Jutta auf. Vorsichtig streift sie das Hosenbein herauf. Auch sie wird von einem dieser aggressiven Tierchen ins Bein gebissen. Von ihrem Schienbein reißen wir eine große Ameise ab. Jutta versorgt ihre blutende Bisswunde so wie vorher meine mit desinfizierenden Mittelchen. Ich entferne weitere Quälgeister von unseren Schuhen und Strümpfen, in die sie sich verbissen haben. Jetzt lernen wir von unserem Führer, die querenden Ameisenstraßen mit großen Schritten zu überwinden. Es sollte der einzige Zwischenfall auf unserem Aufstieg bleiben.
Der verzaubernde Regenwald mit seinen gewaltigen Bäumen und bunten Blumen fesselt uns wieder. An einer lichten Wegbiegung spannen sich Lianen zwischen den Bäumen. Fast über unseren Köpfen turnen Blue Monkeys wie Zirkusartisten auf dem Hochseil von einem Baum zum anderen. Sie lassen sich durch uns kaum stören. Ein nahezu paradiesischer Anblick. Wenig später sehen wir einen anderen Affen ungerührt direkt neben dem Weg sitzen. Seelenruhig futtert er grüne Blätter und lässt sich ausgiebig fotografieren.
Am frühen Nachmittag erreichen wir in 2700 Meter Höhe unser erstes Etappenziel. Der zuletzt noch steilere Dschungelweg mündet in einer sonnenüberfluteten grünen Lichtung. Vor uns liegt Mandara Hut. Auf der Lichtung stehen einige kleine Nurdachhütten. Solarzellen blitzen in der Sonne. Nebenan im Camp der Porter herrscht schon wieder quirliges buntes Treiben. Charles kommt mit breitem Lachen auf uns zu und beglückwünscht uns zu unserer ersten Etappe. Er postiert uns vor ein Empfangsschild und übt sich als professioneller Photograph. Mit Juttas Digitalkamera wirkt er etwas unsicher. Er wird sich noch daran gewöhnen. Diese Zeremonie wird sich bei späteren Viewpoints immer wiederholen.
Charles führt mich zur Reception und ich trage mich in das Besucherbuch ein. Auch diese Übung wiederholt sich in jedem Camp. Charles erzählt dem Caretaker etwas von wichtigen Leuten, die wir sein sollen und dass wir schon oft in Tanzania gewesen sind. Vielleicht soll mich das auch nur für sein späteres Trinkgeld beeinflussen, aber es hilft. Wir bekommen die Hütte Nr. 4 am Rande zum Wald zugeteilt, weit genug von den sauberen Toiletten. Die Vierbetthütte haben wir für uns allein. Charles wird in den nächsten Camps, unterstützt von ein paar Dollars, wieder so handeln und für uns allein eine Hütte organisieren.
Unser Waiter James, er heißt wirklich so, bringt uns die obligatorische Schüssel heißes Wasser. Von jetzt an wird er immer geduldig und aufmerksam für unser leibliches Wohl sorgen. Rasch waschen wir uns Hände und Gesicht. Nach der willkommenen Erfrischung gehen wir hinüber zur Messe. Im Unterschied zu den Schlafhütten ist sie erheblich größer, mit nur hüfthohen Seitenwänden unter dem steilen Dach und verglaster Vorder- und Rückseite. Drinnen stehen rechts und links an den schrägen Wänden Bänke und Tische. In der Mitte ist ausreichend Platz, der hauptsächlich von wartenden Trägern ausgefüllt ist. Sie stehen schwatzend in ihrer bunt zusammengewürfelten Kleidung herum. Jeder sorgt an den Tischen für einen Platz für seine Schützlinge. Meistens verläuft das ruhig und ohne Diskussionen. Da bleibt auch mal Zeit, in die gut gefüllten Popcorn-Schalen der noch nicht anwesenden Gäste zu greifen.
James hat uns das Kopfende des Tisches in der Nähe des Eingangs direkt am Fenster reserviert. Unser Platz ist durch ein olivfarbenes Segeltuch markiert, das durchaus für vier Personen reichen würde. Die meisten bunten Tischdecken sind ordentlich glattgestrichen und sauber. Ich schaue mir die schmale Decke neben unserem Platz an. Woher hat der Porter nur diesen schmalen, schmuddeligen Lappen her? Hier oben gibt es doch gar keine Autowerkstatt.
Auf unserem Tischtuch stehen ordentlich aufgebaut eine Isolierkanne mit Teewasser, eine Büchse mit Energiedrinkpulver, das Nestle-Produkt verschmähen wir, eine große Schale mit Popcorn und Keksen. Jutta wirft einige Entkeimungstabletten in das Teewasser. Wir füllen unsere Tassen mit dem heißen Wasser und baden unsere Teebeutel darin. Um uns herum hören wir ein vielsprachiges Stimmengewirr. Hier im Camp gibt es nur Aufsteiger, die sich locker und gelöst unterhalten. Die Welt ist schön und wir sind glücklich.
Nach dem Tee schaut Charles vorbei und beordert James zu uns. Er soll uns noch zum Maundi Crater führen. Es ist nicht weit, nur ein paar hundert Meter. Vor dem Abendessen sollten wir wieder zurück sein. Plötzlich macht der tropische Regenwald dann doch noch seinem Namen alle Ehre. In wenigen Minuten ist die strahlende Nachmittagssonne hinter dicken Gewitterwolken verschwunden. Es blitzt und donnert. Wie aus Kübeln fängt es an zu schütten. Wir sitzen unter dem Vordach der Messe auf der Veranda und schauen in den Regen.
James wartet ruhig auf unsere Entscheidung. Heute wird es nichts mehr werden. Ich schicke ihn rüber ins Porter-Camp. Er sieht mich dankbar an. Jutta und ich gehen die paar Schritte durch den Regen hinüber zu unserer Hütte. Auf den oberen Betten breiten wir unsere Sachen für den morgigen Tag aus. Die leichten Schuhe für den Regenwald tausche ich gegen meine festen Bergstiefel. Nach Juttas Zetteln werde ich morgen wärmere Bekleidung anziehen. Der Schlafsack und der seidene Kokon sind schnell ausgepackt. Jetzt mein Polter zurechtgelegt, das ist unsere westfälische Bezeichnung für meine Nachtwäsche, dann ist das Bett bereitet. Auf das schmale Bord über dem Kopfende lege ich meine Brille, meine Taschenlampe und die mitgebrachte Rolle Toilettenpapier. Wir sind froh, heute trocken geblieben zu sein. Wir warten auf James, der uns zum Abendessen holen wird.
Der Regen hat aufgehört. James holt uns ab. Unser Nachtmahl ist vorbereitet. Wie in einem guten Restaurant hat er sorgfältig den Tisch gedeckt. Neben unseren Blechtellern und kleinen Blechschüsseln ist das Besteck sorgfältig aufgereiht, bereit für ein mehrgängiges Menü. Mir fällt Hans Fallada ein. Jutta erinnert sich beim Anblick unseres Geschirrs an unsere winterlichen Hundeschlittenfahrten in Skandinavien. Unsere Huskies hatten die gleichen Schüsseln.
James bringt uns Mushroom Soup. Sie ist heiß und schmeckt leicht nach Petroleum. James holt jeden Gang einzeln aus dem Porter-Camp. Zum Nachtisch gibt es exotisches Obst. Zum Abschluss trinken wir noch eine ganze Kanne heißen Tee, unterhalten uns über unseren bisherigen Aufstieg und lauschen den Gesprächen der anderen Gäste.
Müde kehren wir in unsere Hütte zurück, kriechen in unsere Schlafsäcke und beenden zufrieden unseren ersten Tag am Berg. Der ungewohnt viele Tee lässt mich in der Nacht aufwachen. Ich stehe frierend in meinem Polter vor der Hütte und betrachte die glitzernden Sterne am tiefschwarzen afrikanischen Himmel, ein herrlicher Anblick. Im Wald nebenan kreischen die Affen. Im Licht meiner kleinen Taschenlampe ist aber nichts zu erkennen. Die Nacht ist kühl und ich gehe zurück zu meinem warmen Schlafsack.
Mit den ersten Sonnenstrahlen, die durch das Dreiecksfenster im Giebel der Hütte hereinscheinen, werde ich wach. James steht vor der Tür, klopft leise an, ruft zaghaft „Hello“ und stellt uns eine Schüssel heißes Wasser auf die Steinstufen vor der Hütte. Nur mit meiner langen Unterhose bekleidet steige ich in meine Bergstiefel und trete vor die Tür. Das Wasser dampft in der Plastikschüssel. Mit meinen Händen teile ich die bunten Schlieren auf der Oberfläche des Wassers und schmecke das Petroleum. Warum sollte es nicht auch im Waschwasser sein, wenn schon der Tee danach schmeckt? Sei’s drum, auch für Jutta langt es noch zur Morgentoilette. Nur die Zähne, die putze ich mir mit frischem Trinkwasser aus unseren Flaschen. Gut gelaunt spuke ich den Rest prustend gegen die Sonne in das taufrische Gras. Wir freuen uns auf den neuen Tag.
James deckte uns wieder unseren Platz vom Vorabend. Unser Frühstück unterscheidet sich nicht wesentlich von dem im Key’s Hotel. Kann es ja auch nicht, es kommt ja aus der gleichen Küche. Für die Rühreier bezahle ich aber keinen Dollar extra. Wir essen nicht viel, trinken aber wieder eine ganze Kanne heißen Tee. Wir können uns aussuchen wonach er schmeckt: nach Petroleum, nach den Tabletten oder nach tansanischem Tee.
Voller Tatendrang beenden wir unser Frühstück und wollen endlich los. Wir lassen James das Geschirr abräumen und verlassen die Messe. Charles erwartet uns vor unserer Hütte. Ab heute wird er uns führen. Charles fragt uns nach unserer Religion. Vor unserem Aufbruch beten wir gemeinsam. An diesem Morgen scheint wieder die Sonne. Hinter dem Camp führt der Weg durch jetzt schon etwas lichteren Regenwald. Ich möchte gerne die seltenen schwarz-weißen Colobus Affen sehen. Ihr Kreischen konnte ich letzte Nacht hören. Auch heute Morgen ist in den Bäumen von den Affen nichts zu sehen.
Nach kurzer Zeit verlassen wir die letzten Ausläufer des Regenwaldes. Charles erklärt uns, jetzt betreten wir das Moorland. Der Weg führt durch aufgelockerten Baumbestand aus Erikabäumen. Zu Hause sind die Erikasträucher höchstens kniehoch. Hier wachsen die dünnen Stämme bis über drei Meter hoch. Etwas später öffnet sich auch dieser schüttere Wald. Niedrigere Heidebüsche, grüner Ginster, gelbe Proteen und uns aus der Heimat vertraute Blumen und Kräuter sehen wir rechts und links des Weges.
Von Zeit zu Zeit hasten an uns hochbepackte Porter vorbei. Sie rufen uns freundlich zu: „Jambo – wie geht’s?“ Wir erwidern dankend ihren Gruß. Hinter uns höre ich Musik aus einem Kofferradio und drehe mich um. Godlizem lacht mir zu, auch er hochbepackt. Sein Partner trägt unsere Seesäcke. Wir werden in den nächsten Tagen Godlizem’s Disco häufiger hören, wenn er uns wieder mal lachend überholen wird. Rechts vor uns kann ich schon den Mawenzi sehen, den dritten Berg der Gruppe, den Kilimanjaro aber immer noch nicht. Er versteckt sich wieder hinter einem sich hochauftürmenden Wolkengebirge.
Gegen Mittag kommen wir in trockneres Gebiet, die Sonne verwöhnt uns immer noch. Der breite ausgewaschene Weg wird immer steiniger. Trotz der dunkelbraunen Erde erinnert er mich mit seinen wüst herumliegenden Steinen eher an einen ausgetrockneten Gebirgsbach im Hochsommer. Einfach zu gehen ist es nicht mehr. Die Vegetation wird karger. Disteln blühen pinkfarben. Zusammen mit gelben und weißen Blumen sind sie schöne Motive.
In einer wasserführenden Senke, das lernen wir von Charles, stehen in verschiedenen Wachstumsphasen wunderschöne Lobelien. Ein etwa einen Meter hohes blau blühendes Exemplar wächst nur wenige Meter vom Weg entfernt. Gerade will ich die Pflanze aufnehmen, springt Charles hinter sie und lässt sich nicht davon abbringen, mit fotografiert zu werden. Tja, immer wenn ein schönes Motiv sich zeigt, springt er in’s Bild. Da hilft es auch nichts, dass er uns wirklich gute Motive zeigt.
Durch Senken und Anstiege laufen wir auf unserem Weg zum nächsten Camp. Jutta gibt das Tempo vor, ich folge ihr und Charles ist der Schlussmann unserer kleinen Gruppe. Vor uns laufen fünf junge Deutsche mit einem älteren Mann. Er stützt sich vornüber gebeugt schwer auf zwei große Skistöcke. Sein Tagesgepäck wird jetzt schon von ihrem Guide getragen. Der junge Porter hat es sich zusätzlich zu seinem eh schon schweren Gepäck auf die Brust geschnallt.
Aus meiner Sicht laufen die Deutschen unökonomisch. Mal hetzen sie über den Weg, dann überholen sie uns schnaufend, mal halten sie und warten, bis sie wieder alle zusammen sind. Juttas stetiges, zügiges Tempo wirkt sich vorzüglich für uns aus und wir sind wieder vorn. Ob der ältere Mann oben ankommen wird?
Eine weitere Gruppe mit etwa zwanzig Personen und zwei fröhlichen Helfern, einer von ihnen trägt bunte Wollsocken, ist seit dem Regenwald in unserer Nähe. Sie laufen wie wir auch ohne Hektik mit gleichbleibendem Tempo und ebenso interessiert an allem Sehenswürdigen, nur ihre Ausrüstung erstaunt mich. Von Hubert haben wir gelernt, knöchelhohe Schuhe sollte man im Gebirge tragen. Wir sind im Gebirge und diese Norweger tragen Sandalen an ihren nackten Füßen, kurze Hosen und stützen sich auf lange lanzenähnliche Stöcke.
Im Verlauf des späten Vormittags werden die Wolken hinter uns dunkler und bedrohlicher. Langsam kommen sie schräg von links unten auf uns zu. Noch ist es warm und unsere Trinkflaschen leisten uns gute Dienste. Charles zeigt uns die nächste Anhöhe und verspricht uns dort eine Lunchpause. Jutta mit gleichmäßigen Schritten voraus, durchqueren wir die bummelnde Norweger-Gruppe und lassen auch die Hälfte der deutschen Gruppe hinter uns.
Die wenigen Tische des Rastplatzes sind fast alle besetzt. Wir finden noch einen Sitzplatz auf einer der Holzbänke und beginnen unsere Brote zu essen und die gekochten Eier zu pellen. Gerade noch warnt uns Charles vor den häufigen Wetterwechseln an dieser Stelle. Er rät uns dringend, die Regenjacken bereit zu halten, da fegen schon kalte Regenschauer über uns hinweg. Mit dem Essen ist es nichts mehr. Wichtig ist es jetzt, trocken zu bleiben. Wie bei uns im launischen April ist der Schauer schnell vorbei. Wir ziehen unsere Regenkleidung zu Ende an und marschieren weiter den Berg hinauf.
Der Weg durch die Heide- und die Graslandschaft zieht sich in die Länge. Wir sind schon über fünf Stunden unterwegs. Nach einer Wegbiegung auf einer Anhöhe erspähen wir vor uns die Hütten unseres nächsten Tageszieles und dahinter auch erstmals während unseres Aufstiegs unser eigentliches Ziel: zwischen grauen Wolkenfetzen den schneebedeckten Gipfel des Kilimanjaro.
Charles stellt uns wieder einmal in Position und lichtet uns ab. Wir sollen nicht euphorisch werden, die Hütten sind noch weit, meint er. Wir steigen zu einer Brücke hinab, rechts in der Schlucht stehen prächtige rote Blumen und hohe Senecien mit ihren großen Blätterbüscheln auf kahlen Stamm. Die müssen selbstverständlich auch auf den Film. Dann noch ein kurzer steiler Anstieg, gefolgt von wenigen Metern flachen steinigen Weges und wir haben es für heute geschafft. Horombo Hut auf 3720 Metern Höhe ist nach rund sechs Stunden erreicht.
Charles sucht mit mir wieder den Caretaker auf, die gleiche Prozedur wie schon unten erlebt und wir beziehen für die folgenden zwei Nächte wieder allein eine Vierbetthütte in unserem Akklimatisierungslager. Gleich wird James wieder mit der Schüssel heißen Wassers vor der Tür stehen.
Horombo Hut ist Zwischenstation zwischen Auf- und Abstieg. Hier mischt sich die neugierige Anspannung der Aufsteiger mit dem Stolz der erfolgreichen Gipfelstürmer und der Traurigkeit der Gescheiterten. So bunt wie die Mützen der Porter ist die Gesellschaft der Teerunden in der Messe. Norweger und Polen, Spanier und Schweizer, Tschechen und Südamerikaner neben Chinesen und Japanern und dazwischen wir.
James bringt uns wieder Tee, Popcorn und Kekse, nach der Anstrengung des Tages ein reines Vergnügen. Mit unserem Tischnachbarn Roman, einem korpulenten Österreicher und seiner fülligen slowenischen Frau unterhalten wir uns über unsere Erwartungen für den Aufstieg. Roman war einmal im Himalaja auf 5000 Meter Höhe. Er sieht alles noch ganz locker, seine Frau ist schon etwas ängstlicher. Am liebsten möchte sie sofort hinauf, ohne Akklimatisierung, so wie es die Norweger vorhaben. Ich merke, die unbestimmte Sorge des Scheiterns will sie nicht länger ertragen. Sie will es möglichst schnell hinter sich bringen. Willi, der ältere Mann aus der deutschen Sechsergruppe, hat es doch noch geschafft. Seine jungen Mitstreiter, einer davon ist sein Sohn, unterhalten sich laut und spürbar aufgekratzt.
Vor dem Abendbrot stehe ich mit Jutta im abnehmenden Licht der sinkenden Sonne am Rande der flachen Anhöhe, auf dem das Lager errichtet ist. Der Wind hat die Wolken vom Gipfel verweht. Wir haben jetzt über die Porter-Hütten hinweg einen freien Blick auf den Berg. Der steil aufsteigende Hügel hinter dem Lager erspart uns noch die Aussicht auf den langen Weg dorthin. Hinter uns in der beginnenden Dämmerung können wir die ersten Lichter von Moshi erkennen, den zurückgelegten Weg nicht mehr.
In dem bunten Gedränge der Messe hat uns James wieder einen Platz für unser Abendessen erkämpft. Unsere Köche kochen unter Sternen. Heute schmeckt uns die Mushroom Soup wieder hervorragend. Als dankbare Gäste beenden wir unser mehrgängiges Menü stilsicher mit heißem Tee.
Auf dem Weg zu unserer Hütte machen wir einen kleinen Umweg zum Rand des Plateaus. In der Ebene blinken jetzt zahlreicher die Lichter der Dörfer und Städte. Wir betrachten den fahlen Gipfelgletscher und schauen hoch zu den strahlenden Sternen am Himmel über Afrika.
Bei Sonnenaufgang weckt uns heute nicht der Muezzin wie in Moshi, sondern das Krächzen der zahlreichen Weißrückenkrähen auf den Dächern der umliegenden Hütten. Nach Morgentoilette und Frühstück brechen wir mit leichtem Gepäck zu einem kleinen Spaziergang zu den Zebra Rocks auf. Wir wollen heute über 4000 Meter aufsteigen und langsam uns an die Höhe gewöhnen.
Wie jeden Morgen beten wir gemeinsam vor dem Aufbruch und Charles geht voraus durch das Lager, vorbei an der kleinen Hütte für die Köche. Direkt hinter dem Platz für das Zeltlager windet sich der holprige Weg steil den Hügel hinauf. An der Weggabelung wählen wir den Upper Trail in Richtung Mawenzi und ich lese auf dem Wegweiser, es sind mehr als 10 km bis zum nächsten Camp. Der Lower Trail ist knapp einen Kilometer kürzer, unser Weg am nächsten Tag.
Der steinige Trail führt uns durch ein sanft abfallendes Hochtal mit saftig grünem Gras und großen Senecien. Gegenüber leuchtet der bizarr zerklüftete Gipfel des Mawenzi rotbraun in der Morgensonne. Vom Schneesturm der letzten Nacht sind seine Hänge bis weit hinunter tief verschneit. Wir erreichen das Last Waterhole auf diesem Weg. Jetzt bin ich schneller, ich schieße mein Bild ohne Charles.
Bis zu den Zebra Rocks ist es nicht mehr weit. Ich bleibe etwas zurück, um meine eigenen Bilder zu fotografieren. Aber Charles stellt uns schon wieder vor die schwarz, grau und weiß gebänderten Felsen. Es macht ihm Spaß, uns eine Freude zu bereiten, wie er meint. Charles ist heute ruhiger als sonst und nachdenklich. Bis zum Saddle am Fuße des Mawenzi will er nicht mehr gehen. Das Wetter ist zu unbeständig. Lieber will er uns den Gipfel zeigen.
Wir klettern seitwärts an den farbigen Felsen vorbei auf den Rücken des Hügels, immer in der Hoffnung, die Wolken werden den Kibo freigeben. Charles steigt voraus und hüpft oben vor Freude über die letzten Steine. Unter uns im Schatten der Wolken die weite Ebene des Lower Trails, weit vor uns der steile Vulkankegel des Kilimanjaro, tief nach unten verschneit und für kurze Momente wolkenfrei. Ein majestätisches Bild.
Durch das Fernglas können wir die grauen Steinhäuser von Kibo Hut erkennen. In den graphitgrauen Steilhängen darüber zeichnen sich die helleren Serpentinen des Aufstieges ab. Als kleiner dunkler Fleck ist Hans Meyer Cave zu erkennen. Jutta ist ergriffen: „Wer zwingt mich denn, dort hinauf zu gehen?“
Nach einem letzten Blick in die unter uns liegende Hochebene auf den sich endlos über den gesamten Horizont hinziehenden Weg steigen wir wieder zum Zebra Rock ab und kehren am Wasserloch vorbei auf den Weg zurück. James bereitet sicher schon den Nachmittagstee.
Im Camp und auf dem Vorplatz der Messe laufen Porter und Bergsteiger geschäftig und schwatzend durcheinander. In vielen Sprachen kreisen die Unterhaltungen um Auf- und Abstieg, die passende Ausrüstung und richtige Technik. Am frühen Nachmittag kommen die ersten Bergsteiger herunter in das Camp. Die früher Eintreffenden haben es nicht geschafft. Sie sind schon am Vormittag von der Kibo Hut abgestiegen. Die später erschöpft und glücklich ankommenden Erfolgreichen werden ehrfürchtig bewundert.
Kurz vor dem Abendessen, schon in der Dämmerung, beobachte ich einen auffallend großgewachsenen älteren Asiaten. Mit langsamen, fast bedächtigen Schritten schleppt er sich auf den Vorplatz. Seine Schritte sind staksig, seine Stimme brüchig. „My room, my room, where is my room?“ höre ich ihn erschöpft rufen, dann verschwindet er zwischen den Hütten. Unser Abendmahl dehnen wir heute nicht weiter aus. Wir verkriechen uns rechtzeitig in unserer Hütte.
So wie in den letzten Nächten entsorgen wir auch heute wieder unseren Abendtee. In der dunklen Nacht pilgere ich zum zentralen Häuschen. Nach einigen Tagen Übung bringe ich die französische Toilette, meine heruntergezogenen Hosen und die männliche Anatomie spurenlos in Übereinstimmung.
Am Morgen bin ich früh wach. Jutta lässt die Tür einen Spalt breit offen. Ich blinzle in die wärmende Morgensonne und warte auf James mit der Wasserschüssel.
Auf dem Weg zum Frühstück bewundere ich den in der Morgensonne rosa schimmernden Rebmann Gletscher oben am Gipfel. Bevor wir weiter zur nächsten Etappe marschieren, schickt mich Charles noch zum Caretaker. Ich soll mich für den Rückweg in Erinnerung bringen, damit wir wieder eine Hütte für uns allein haben. Ich wusste gar nicht, dass ein paar bunt bedruckte Papierchen die Gedächtnisleistung des Menschen erhöhen sollen.
Heute folgen wir dem Lower Trail in Richtung Kibo Hut. Nach Überwindung des steilen Hügels hinter dem Lager öffnet sich die trostlos erscheinende weite Ebene. Geröll, Steine und Felsen leuchten im wechselnden Licht von hellgrau über ocker und vielen Brauntönen bis hin zum tiefen Schwarz der Lavabrocken. Die Vegetation beschränkt sich auf wenige niedrige Büsche, Flechten, Disteln und einige dürre Grasbüschel.
Jutta fragt, ob diese akkurat zwischen den Steinen wachsenden Gräser von jemandem gepflanzt worden sind. Selbstverständlich kann Charles das rasch aufklären. Unterwegs rasten wir auf grauen Felsen und versuchen, die hier flink umher huschenden niedlichen Mäuschen mit ihren gelben Rückenstreifen mit Brotkrümeln zu locken. Sie sind genauso scheu wie die im Camp und zieren sich, für uns Modell zu stehen. Wenigstens eine möchten wir für unsere Nachbarin zu Hause aufnehmen. Bei ihrem Anblick wird sie sicherlich wieder auf den Stuhl springen.
Willi und seine Gruppe und auch Roman mit seiner Frau treffen wir an diesem Rastplatz beim Lunch. Levi, der skurril und maskenhaft asketische Engländer, ist schon wieder unterwegs. Später werde ich sein blankes Hinterteil hinter einem großen Stein verschwinden sehen. Am letzten Wasserloch auf diesem Weg füllt Charles seine Trinkflasche. Er benutzt keine Entkeimungstabletten. Wir sollten es ihm aber nicht nachmachen, erläutert er uns. Wir seien viel zu empfindlich.
Pole, pole – langsam, langsam – hören wir nur selten auf unserem Weg. Offensichtlich hat Jutta das richtige Tempo. Jetzt will Charles aber weiter und Jutta stapft wieder zügig voran. Auf den folgenden Kilometern steigt der Pfad stetig an. Bis jetzt haben Jutta und ich die Etappen gut bewältigt. Wir sind noch gut in Form, haben überhaupt keine Probleme. Nichts plagt uns. Nach all den Berichten habe ich es mir schwerer vorgestellt. Charles zeigt voraus und warnt uns. Von hier aus können wir schon die grünen Dächer von Kibo Hut mit bloßem Auge erkennen. Viele verschätzen sich und beginnen wie die Pferde auf dem Rückweg zum Stall das Tempo anzuziehen.
Die letzte halbe Stunde der heutigen Etappe hat es in sich. Steil wie auf einem Hausdach geht es bergauf. In meiner warmen Bekleidung komme ich mächtig ins Schwitzen und schnappe erstmals heftiger nach Luft. Wir sind jetzt bei etwa 4500 Meter Höhe angelangt. Am Beginn des Anstiegs sehe ich in Romans hochrotes Gesicht. Seine Schritte werden langsam, er japst nach Luft, hält an, trinkt und wendet sich zu seiner zurückbleibenden Frau. Sie ist völlig schlapp und hockt auf einem Felsen. Jutta geht unbeirrt weiter und wir lassen sie hinter uns. Außer Atem kommen wir oben auf 4750 Meter an. Es spielt sich die jetzt schon fast unvermeidliche Prozedur ab. Charles beglückwünscht Jutta und mich, postiert uns vor Begrüßungstafel und Hüttentür, lichtet uns ab und ist zufrieden.
Anspannung, eiskalte Dunkelheit und strahlender Sonnenaufgang
Draußen vor der Unterkunft ist es kalt und windig. Hier ist die Reception eine winzige Hütte. Auf meine eindringliche Frage nach dem besten Zimmer in diesem Camp lächelt der Caretaker mich vielsagend an. Drinnen in der aus Steinen gebauten Unterkunft ist es noch kälter.
Ich habe schon ewig nicht mehr in einem Mehrbettzimmer übernachtet. Wir teilen uns den Raum mit der deutschen Gruppe. Willi, der Senior der deutschen Gruppe, hat es auch noch geschafft. Er ist stolz und glücklich. In solcher Höhe war er noch nie in seinem Leben. Ganz nach oben will er aber nicht. Vor dem Haus treffen wir Roman, seine Frau schleppte sich unter größten Mühen auch noch bis hierhin. Sie wird auch hierbleiben.
Ich kann mich nicht entscheiden, welches Bett ich belegen soll. Nehme ich das unten in der Ecke oder doch das über Juttas Bett, direkt an Wand und Fenster? Vielleicht kann ich die Fensterluke später öffnen, um frische Luft zu schnappen? Ich entscheide mich für die obere Etage und verzichte nach Juttas Zureden auch auf das Fensteröffnen. Schließlich seien wir nicht allein, meint sie. Ja gerade deshalb wollte ich es ja öffnen.
Wir sind acht Personen in dem Zwölfbettzimmer. Unsere jungen Mitbewohner haben eine weitere Belegung abwehren können. Trotzdem ist es eng um Tisch und Bänke herum. Unser Abendessen bekommen wir heute sehr früh. James’ Spaghetti und Kartoffeln schmecken heute noch intensiver nach Petroleum. Das wird auch nicht durch das schmackhafte Gemüse neutralisiert. Jutta spukt die Spaghetti wieder aus und isst nur ein paar trockene Kartoffeln. Ich würge ein paar Nudeln herunter und wir trinken wieder unser übliches Quantum Tee.
Mit der beginnenden Dunkelheit versuchen wir alle zu schlafen. Mit der warmen Unterwäsche schon halb angezogen für den nächtlichen Aufstieg liege ich in meinem Kokon. Der Geruch des Essens hängt noch im Raum und die unterschiedlichen Geräusche unserer Mitschläfer lassen mich nervös auf meiner Pritsche herumwälzen. Die Ohrstöpsel stören mich mehr als sie mir nützen. Ich nehme sie heraus und kann Willis Stöhnen wieder ungefiltert hören. Nach ein paar Stunden weckt mich Jutta. Sie fordert mich auf, sie doch auf ihrem nächtlichen Weg zu begleiten. Roman schlurft an uns vorbei, höflich schwenkt er seine Stirnlampe wieder nach vorn und verschwindet in Richtung der schlichten Toiletten. Bei der Bundeswehr nannten wir solche Einrichtungen anders.
So gegen halb zwölf Uhr weckt uns James mit heißem Tee. Schlaftrunken ziehen wir uns vollständig an. Über Seidensocken und lange Unterhosen streife ich warme Strümpfe. Die moderne Funktionsunterwäsche wird ergänzt durch Fleece-Pullover und Fleece–Unterjacke. Darüber trage ich eine wind- und wasserdichte weitere Jacke, auf dem Kopf meine norwegische Wollmütze. Jutta ist noch etwas dicker eingepackt. Jetzt habe ich etwas Kopfschmerzen. Ich weiß nicht genau wovon, vielleicht vor Nervosität und der ungewohnten Unterbringung. Vielleicht ist es aber eine leichte Höhenkrankheit. Jutta ist der Grund egal. Ich muss eine der mitgeführten Tabletten schlucken, was mir mit viel Tee schließlich gelingt.
Charles holt uns ab und drängt zur Eile. In der Kälte vor der Tür wartet Godlizem. Er und Charles tragen unseren Daypack. Meine Kopfschmerzen sind in der frischen Luft verflogen. Es ist kurz nach Mitternacht. Auf dem Platz vor der Hütte versammeln sich die unterschiedlichen Gruppen zum Aufstieg. Ich schalte meine Stirnlampe ein, ziehe meine warmen Handschuhe an und folge mit klopfendem Herzen Godlizem und Jutta in die tiefschwarze Nacht. Charles geht hinter mir. Die Luft ist schneidend kalt. Es fängt an zu schneien.
Nach meiner Planung wollte ich ursprünglich bei Vollmond den Gipfel besteigen. Sind die Mondphasen auf der südlichen Hemisphäre eigentlich auch entgegengesetzt? Auf der Suche nach den richtigen Zeiten durchsuchte ich das Internet. Nach unzähligen unsinnigen astrologischen Angeboten und einigen brauchbaren wissenschaftlichen Aufsätzen fand ich die Lösung. Im Norden und im Süden haben wir dieselben Abläufe unserer Gestirne. Zu dem passenden Termin erhielten wir aber nicht unser Permit. Wird es nicht besser sein, den anstrengenden Weg zum Gipfel gar nicht zu sehen?
Meine Stirnlampe beleuchtet Juttas dunkelblaue Jacke. Der silberne Signalstreifen reflektiert schwach das Licht. Hinter mir höre ich Charles atmen. Von Zeit zu Zeit ruft er unserem Anführer etwas in Suaheli zu, was ich natürlich nicht verstehe. Die erste Zeit folgen wir langsam den ausgetretenen Serpentinen. Die Lichter der vor uns aufgebrochenen Gruppen sind schwach über uns zu sehen. Der ferne Gipfel verschwindet unsichtbar in der Dunkelheit. Berg und Himmel sind eine große schwarze Wand. Die Stimmen der nach uns Aufgebrochenen höre ich leise hinter uns.
Jutta findet nicht ihr ruhiges und gleichmäßiges Tempo der letzten Tage. Ich höre sie unwillig leise schimpfen. Godlizem ist zu schnell, der Abstand wird zu groß, Charles ruft ihn zurück. Jetzt wird er zu langsam und wir laufen auf ihn auf. So kann es nicht gut gehen. Godlizem hat nicht die Routine und Erfahrung von Charles. Immer öfter müssen wir halten und ringen nach Luft. Soweit ich es erkennen kann, geht es den anderen Bergsteigern nicht anders. Auch sie bleiben stehen, ringen nach Luft und trinken Wasser. Auf unterschiedlichen Wegen klettern wir aneinander vorbei. Im Vorübergehen höre ich sie stoßweise atmen. An der Hans Meyer Cave in über 5100 Meter Höhe machen wir in dieser Nacht das erste Mal Rast.
Ich bin erschöpft und setze mich auf einen Stein vor die Höhle. Jutta sitzt hinter mir. Sie bittet mich, ein Foto zu machen. Zum Fotografieren will ich aber keine Kraft verschwenden und konzentriere mich auf meine Atmung. Jetzt kommt auch der geschwätzige Sachse zur Höhle, der uns im Horombo Camp schon genervt hat. Die Sachsen trifft man zwischenzeitlich überall in der Welt.
Die Höhle ist nur etwa anderthalb Meter hoch. Der Sachse ist natürlich größer und will sie aufrecht betreten. Unvermittelt knallt er mit dem Kopf gegen die Felswand. Er versucht es erneut. Nach seinem zweiten gleichsam erfolglosen Versuch drückt ihn sein Führer herunter. Schließlich findet er einen Sitzplatz im hinteren Bereich der engen Höhle. Sein nachrückender Kumpan fällt beim Versuch sich hinzusetzen wie ein Maikäfer auf den Rücken. Alle Bewegungen sind in dieser Höhe kräftezehrend anstrengend.
Charles drängt weiter. Der Weg wird noch steiler und beschwerlicher. In dem gefrorenen Lavasand komme ich mir vor wie in einem großen Sandkasten. Meine Atmung wird immer flacher. In immer kürzeren Abständen halten wir an und ringen nach Luft. Davon ist aber nicht so viel vorhanden. Ich beobachte Jutta. Das unregelmäßige Tempo macht ihr sehr zu schaffen. Ich beginne, mir Sorgen zu machen. Wir haben vereinbart, uns nicht gefährlich zu überfordern und rechtzeitig aufzugeben. Ich frage sie, wie es ihr geht, vermeide aber, sie direkt zur Aufgabe zu bewegen. Ich kenne meine Jutta, sie wird so schnell nicht aufgeben.
Zwischenzeitlich schnaufen auch unsere beiden Führer. Wir kommen nur noch schrittweise weiter. Immer häufiger müssen wir anhalten. Es ist immer noch stockdunkel. Wenn ich meinen Kopf hebe und weit nach oben schaue, kann ich jetzt schon einen dunkleren Rand am Himmel erkennen. Das muss der Kraterrand sein. Wir werden es schaffen. Schwer atmend jammert Jutta: „Wie lange geht das denn noch?“ Nach vornübergebeugt und heftig atmend stützt sie sich auf ihre Bergstöcke. „Woher soll ich nur die Kraft nehmen?“ jammert sie wieder und wieder.
Besorgt lege ich in einer Pause meinen Arm um ihre Schultern. Jetzt machen wir nach fast jedem Schritt eine Verschnaufpause. Wir sind jetzt schon so weit oben. Wir geben nicht auf. In der Dunkelheit höre ich das Rufen, Schnaufen und auch das Gekotze der anderen Leidensgefährten, zu sehen brauch ich es nicht.
Der Weg ist längst kein Weg mehr. Von Stein zu Stein klettern wir aufwärts. Godlizem zieht Jutta von oben an den Händen hinauf und ich schiebe von hinten Juttas Hintern über die größeren Felsbrocken, die wir nicht mit einem Schritt bewältigen können. Die Steine sind glatt von dem frisch gefallenen Schnee. Es ist quälend. Sie wird mir später sagen, meine Hilfe gab ihr Sicherheit. Auch in den schwersten Abschnitten dachte sie deshalb nie an’s Aufgeben.
Mit letzter Kraft steigen wir über die vereisten Felsbrocken. Noch einige heftige Kletterpartien und wir vier drängen uns auf einem kleinen Plateau zusammen. Staunend fragt Jutta: „Was ist los? Wo sind wir?“ Überglücklich und den Tränen nahe antworte ich: „Du hast es geschafft! Du hast Gilman’s Point erreicht! Wir sind auf dem Gipfel des Kilimanjaro!“
Ungläubig schaut sie mich mit großen Augen an. Schluchzend fällt sie mir um den Hals, lacht und heult hemmungslos. Charles ist ganz verwirrt und weiß erst nicht was passiert. Endlich begreift er. Wir umarmen uns alle und strahlen. Ab jetzt nennt er Jutta „strong mama“.
Es ist ein Viertel nach sechs Uhr und immer noch dunkel. Levi war mit seinem Führer als Erster vor uns oben. Jetzt schiebe ich ihn für das Gipfelfoto zur Seite. Charles tritt wieder in Aktion. In der Kälte der 5681 Metern Höhe funktionieren unsere Kameras nur für ein paar Bilder. Meine gute alte Canon braucht wieder die Wärme meines Körpers, danach wird sie hoffentlich wieder funktionieren.
Über der schwarzen Silhouette des Mawenzi färbt sich langsam der Horizont silberweiß über einem hellroten Streifen. Die Sonne geht auf und taucht den Abhang des Vulkankegels in ein mildes, weißliches Licht. Jetzt können wir den halsbrecherischen Steilhang erkennen und schaudern. Das haben wir geschafft?
Nach und nach erreichen die anderen Gruppen Gilman’s Point. Es wird jetzt eng hier oben. Zwei aus der Gruppe der Venezolaner liegen sich ebenfalls schluchzend vor Freude in den Armen. Einer aus der Gruppe der jungen Deutschen beugt sich sofort nach Erreichen des Plateaus über das Geländer.
Ich wende mich diskret ab und schaue mir die tief verschneite Caldera später intensiver an. Drüben erkenne ich im Reusch Crater das kleine Rund des Ash Pit und weiter links am westlichen Rand des weitläufigen Kraters zieht sich ein rotbraunes Felsband hin. Charles zeigt dort rüber zum höchsten Punkt des Kraterrandes. Dort drüben also liegt mein Ziel.
Bis zur Unabhängigkeit Tanzanias im Jahre 1961 hieß dieser höchste Punkt des Kontinents noch Kaiser Wilhelm Spitze, ein Zeugnis deutscher Ostafrikaforscher. In der Nacht zur Unabhängigkeit wurde er umgetauft in Uhuru Peak – Freiheitsspitze.
Nur wenige Minuten beratschlagen wir. Ich bin zwar völlig fertig, schaue Charles an und entscheide, ich gehe weiter. Jutta hat erreicht, was sie wollte. Sie steigt zufrieden mit Charles ab. Zusammen mit Godlizem beginne ich ein weiteres Kapitel des Dramas. Begeistert schaut er nicht drein.
Auf der inneren Seite des Kraters folge ich Godlizem auf einem schmalen festgetrampelten Pfad auf dem fast bis zum Rand heraufreichenden Schnee des großen Kraters. Links von mir ragen die Felsen noch ein paar Meter auf und geben mir Schatten. Auf der rechten Seite fällt die unberührte vereiste Wand steil ab in das Innere der Caldera.
Trotz größter Anstrengung kann ich meinen Atem immer noch nicht kontrollieren. Ich bekomme einfach nicht genügend Luft, um mich zu erholen. Hier erfahre ich am eigenen Leib die oft beschriebene aber bisher nie selbst erlebte Erschöpfung aufgrund mangelnden Sauerstoffs. Ich bin einfach zu kaputt. Schritt für Schritt folge ich Godlizem. An engen Felsen klettere ich vorbei. So richtig nehme ich die gefährlichen Stellen nicht wahr, an denen ich abstürzen könnte.
Wir klettern über einen kleinen felsigen Abhang und wechseln in die Sonne auf den breiten Kamm des Kraters. Jetzt habe ich den Rebmann Gletscher zum Greifen nahe vor mir. Mein Weg führt über schwarze Lava und große Schneeflächen. Bizarre kleine Eiskegel ragen rechts und links des Trampelpfades von der Erde auf und bilden glitzernde weiße Inseln in dem tiefschwarzen festgefrorenen Lavasand. Ich laufe schwer atmend Godlizem hinterher. Alle paar Schritte mache ich Pause. Es wird nicht besser. Nach etwa eindreiviertel Stunden erreichen wir beide abgekämpft Uhuru Peak. Geschafft, 5895 Meter über dem Meer sind erreicht, ich bin am Ziel!
Ich kann nicht mehr. Stoßweise und flach geht mein Atem. Restlos erschöpft setze ich mich neben die Gipfeltafeln, hechle nach Luft und versuche mich zu erholen. Godlizem steht etwas abseits von mir in der Sonne. Ihm geht es etwas besser. Von seinem Atem bildet sich Raureif auf seinem Balaclava. Die schwarze Mütze gibt nur seine dunklen Augen frei. Ich rufe ihn heran und lasse mir eine meiner Trinkflaschen geben. Ganz langsam beruhigt sich meine Lunge. Im Gegenlicht beobachte ich die anderen Bergkameraden, wie sie genauso wie wir die letzten Meter zum Gipfel heraufgeschlurft kommen. Ich erkenne Levi und begrüße zwei unserer Zimmergenossen. Endlich finde ich Zeit, mich aufmerksamer umzusehen.
Unter mir weiter nach Westen sehe ich über den Wolken den Gipfel des Mount Meru. Gen Süden blitzen die mächtigen Gletscher des Southern Icefield. Die steil aufragenden hohen Wände des Gletschers dort drüben leuchten hellblau in der Sonne. Meine gute Canon tut es jetzt wieder. Ich stelle Godlizem dorthin, wo ich mich vor der Gipfeltafel gleich fotografieren lassen möchte. Anders als Charles begreift er nicht sofort. Auch egal, dann nehme ich ihn eben auf. Doch dann hat er’s begriffen. Ich verknipse die letzten paar Bilder meines Films, packe die Kamera wieder unter meine warmen Jacken und wir beginnen den Abstieg. Zum Filmwechsel fühle ich mich zu schlapp.
Die Verschnaufpause auf dem Gipfel bringt nur kurze Zeit ein wenig Erholung. Es geht wieder nur mit wenigen Schritten vorwärts. Der steile Abstieg durch die Felsen auf den schmalen Pfad im Schatten der Kraterwand zwingt mich zu höchster Aufmerksamkeit. Warum läuft mein Begleiter denn jetzt so weit vor? Er verschwindet sogar hinter Felsen. Was macht er denn, wenn ich abstürze? Unten auf dem Kratergrund im Schnee der letzten Nacht erkenne ich frische Spuren. Wenn ich das noch beobachten kann, dann kann es so schlecht mit mir doch noch nicht sein, denke ich.
An einer etwas breiteren Stelle des Weges sitzt einer der Venezolaner. Ich erkenne ihn wieder. Oben am Gipfel hat er mir schon etwas erzählt von seinem verdorbenen Magen und dem Essen, das wohl schlecht gewesen sein muss. Jetzt kann ich ihn gar nicht mehr verstehen. So schlecht ist mein Englisch doch nicht. Als sein Guide ihn darauf aufmerksam macht, dass ich gar nicht der bin, für den er mich hält, begreife ich. Es gab kein schlechtes Essen. Er ist tatsächlich höhenkrank. Während er von seinem Guide aufgehoben wird, gehen auch wir weiter. Zurückblickend sehe ich noch, sein Führer hakt sich bei ihm ein und lädt ihn sich halb auf die Schulter. Beide folgen uns langsam.
Es dauert eine Ewigkeit, scheint mir, bis wir Gilman’s Point wieder erreichen. Verärgert diskutiere ich mit Godlizem, wie lange ich pausieren darf und setze mich einfach hin. Der wild gezackte Mawenzi unter uns ist jetzt in gleißendes Licht getaucht. Mein eiskaltes Wasser schmeckt köstlich. Ich raffe mich wieder auf und wir steigen die steilen Felsbrocken hinab. Schritt für Schritt, Meter für Meter folge ich meinem schwarzen Begleiter. Nach der steilen Kletterpartie suchen wir unseren Weg auf den Serpentinen nach unten. Es wird nicht besser. Ich schaffe nur fünf oder sechs Schritte hintereinander, dann muss ich wieder anhalten. Wozu habe ich nur so lange und hart trainiert? Jetzt zähle ich meine Schritte und zwinge mich, die einzelnen Abschnitte zwischen den Pausen zu verlängern.
Godlizem ist wieder viel zu weit voraus. Warum wartet er denn nicht, der verflixte Kerl? Absichtlich gehe ich andere Schleifen durch das Geröll. Jetzt wartet er endlich und ich kann wieder aus meinen Flaschen trinken. Weit unten sehe ich den flacher werdenden Berghang und dahinten ist Kibo Hut zu erkennen. Das wird noch eine ganze Weile dauern. Endlich erreichen wir den Abhang mit dem tiefen Lavasand. Wir entscheiden uns für die direkte Falllinie. Das wird schneller gehen, hoffe ich. Ich schaue zurück zum Gipfel. Eine Wasserflasche springt polternd an mir vorbei. Godlizem kann sie gerade noch auffangen. An mir vorbei stürmen zwei junge Frauen durch den losen Sand. Dankbar nimmt eine von ihnen die Flasche wieder an sich.
Ich schaffe wieder nur zehn oder zwölf Schritte. Langsam steigere ich mich auf bis zu achtzehn Schritte. Dann brauche ich wieder eine Pause. Ich muss zu meinem Chagga aufschließen. Ich brauche wieder Wasser. Der Abhang will kein Ende nehmen. Bis über die Knöchel rutsche ich durch den trocknen Sand. Die beiden Frauen sind unten an den ersten grünen Grasflecken in der Nähe des Lagers angelangt. Ich will es nicht wahrhaben, auch wenn es steil bergab geht, ich kann nicht schneller. Trotz vieler Pausen erhole ich mich nicht. Godlizem hockt wartend auf einem Felsbrocken. Ich torkle weiter.
Endlich erreiche ich das Schild in Höhe von 5000 Metern. Nur langsam kann ich wieder tiefer durchatmen. Weiter unten erst schöpfe ich wieder Kraft und erreiche nun auch das erste Gras. Der Untergrund wird wieder fester. Godlizem läuft schon wieder vor. Wird er den kürzeren Weg quer durch das Porter Camp wählen? Nein, in weitem Bogen folgt er dem Hauptweg und ich trotte jetzt schon mit kräftigeren Schritten hinter ihm her.
Nur noch wenige Meter bis zum Lager, da kommt Charles zwischen den Hütten den Weg herunter uns entgegengelaufen. Wer von uns beiden strahlt mehr? In einer Hand schwenkt er eine Flasche mit rotem Saft, in der anderen Hand hält er eine unserer roten Plastiktassen. „Congratulation, congratulation!“, ruft er immer wieder und lacht und lacht. Dankbar trinke ich in vollen Zügen den mir dargebotenen süßen Kirschsaft. Champagner könnte nicht besser schmecken. Ich reiche die Tasse Godlizem, Charles zögert eine Sekunde, doch dann schenkt er auch ihm ein. Gemeinsam gehen wir den Weg zurück ins Lager. Ich bin müde und zufrieden.
Eine am Vormittag angekommene Gruppe hat ihre blauen Zelte auf dem Vorplatz zu unserer Hütte aufgeschlagen. Die Porter haben große grüne Mannschaftszelte. Einen Zeltboden kann ich darin nicht erkennen. Es ist sonnig, aber kalt, die Zeltbahnen flattern im aufkommenden Wind. Charles gibt mir eine dreiviertel Stunde Zeit zum Ausruhen. Jutta wartet im Zimmer. Ich schließe sie in meine Arme. Sie strahlt mich an, ihre Augen leuchten. Sie ist schon wieder fit und ganz aufgekratzt. Unsere Sachen sind gepackt, bis auf meinen Schlafsack. Müde krieche ich auf das obere Bett und falle in einen leichten Schlaf.
Es wird unruhig im Zimmer. Ich wache auf und bemerke die neue Belegung. Nur wenig mehr als eine halbe Stunde habe ich geruht. Willi und seine Freunde sind in der Zwischenzeit schon aufgebrochen. Eine Gruppe Amerikaner wartet darauf, dass ich wach werde und das Bett frei mache. Ich bin ausgeruht und fühle mich wieder bärenstark. Draußen scheint die Sonne. Fröhlich springe ich vom Bett und kleide mich an. James bringt Tee und die Amerikaner sitzen verständnisvoll auf den freien Betten. Charles wartet schon auf uns. Er will meinen Daypack tragen. Das wehre ich ab. Ich gebe ihm den Rucksack von strong mama.
Während wir uns auf dem Vorplatz für den weiteren Abstieg fertig machen, verfinstert sich die Sonne und heftiges Schneetreiben setzt ein. Wir schlüpfen in unsere Regenjacken, trotzen dem Wetter und schreiten stolz und glücklich auf dem Weg in Richtung Horombo Hut. Charles mahnt zur Eile. Auf dem Rückweg bestimmt Jutta wieder das Tempo – Hakuna matata – don’t hurry in Africa.
Abstieg, Rückkehr und Belohnung
Weiter unten wird aus dem Schneegestöber kalter Regen. Ich habe mich wohl etwas zu leicht angezogen. Der unerwartete Regen lässt mich frösteln. Doch das stört mich nicht sonderlich. Aufwärts kam mir der Weg über den Saddle und die Ebene sehr viel länger vor. Jetzt sind wir schon an dem Platz mit den Mäuschen und gleich beginnt der abfallende Geröllweg durch das niedrige Gestrüpp.
Levi stürmt mit seinem Träger wieder einmal an uns vorbei. Die beiden sind auch pitschnass. Der redefreudige Sachse rechnete wohl noch mehr als ich mit schönem Wetter. Nur mit Sandalen an den Füßen und völlig ohne Regenschutz ist er nass bis auf die Haut. Aber ihn stört das nicht wirklich. Mit ein paar hastigen Sätzen auf den Lippen strebt er schnellen Schrittes dem Camp entgegen.
Jutta fragt mich nach hinten durch den Regen nach der trockenen Jahreszeit. Hatte ich doch versprochen, unsere Reise in die Trockenperiode zwischen die Regenzeiten zu legen. Gut, dass uns Wind und Regen nicht unsere gute Laune vermiesen. Charles hat sich mit Juttas Tempo arrangiert. Wir haben den Gipfel bezwungen – hakuna matata!
Am frühen Nachmittag kehren wir nach Horombo Hut zurück. Es hat aufgehört zu regnen. Beim Abstieg vom letzten Hügel hinab in das Lager fühle ich mich in meiner triefenden Regenjacke wie ein siegreicher Gladiator in der Arena. Auf dem Versammlungsplatz schauen wir uns nach dem Caretaker um. Er steht nicht wie üblich vor seiner Hütte. Charles findet ihn bei einem Schwätzchen unter den Trägern.
In Suaheli wechselt er einige Worte mit ihm. Gemeinsam suchen wir unseren vorherigen Eintrag im Gästebuch. Die bunten Papierchen können tatsächlich die Gedächtnisleistung des menschlichen Gehirns wirksam beeinflussen. Wir bekommen für uns eine Hütte am Rande mit Blick auf den gegenüberliegenden Abhang zugewiesen. Mir gefällt es.
Unser Gepäck wird uns gebracht, selbstverständlich auch die kleine blaue Schüssel mit dem schillernden heißen Wasser. Alles ist nass. Die durchfeuchteten Klamotten breiten wir auf dem oberen Bett aus und ziehen uns trockene Wäsche an. In der Messe umfängt uns das fröhliche Geschnatter bei Popcorn, Tee und Keksen. Vergessen sind die Strapazen der letzten Stunden. Jetzt sonnen wir uns in den ehrfürchtigen Blicken derjenigen, die heute hier auf ihren Aufstieg warten. Wir haben den Gipfel bezwungen!
Nach dem Abendessen kommt Charles noch zu uns in die Messe zum Briefing für den nächsten Tag. Jutta schenkte ihm am Nachmittag ihre extra für den Aufstieg gekauften modernen wind- und wasserabweisenden Handschuhe, ihre Taschenlampe und eine Hose. Sie erkundigte sich nach seinen Vorstellungen für das Trinkgeld. Er kommt nicht so recht mit der Sprache heraus.
Charles nimmt ein Stück Stanniolpapier aus seiner Zigarettenschachtel. Langsam schreibt er uns die Mitglieder unseres Teams auf. Vier Träger, ein Waiter, ein Cooker, ein Assitant Guide und er. Unser Waiter ist James, doch wer ist der Cooker? Ist das nicht auch James? Der kleine, stämmige, siebzehnjährige Kerl, seinen einheimischen Namen kann ich mir nicht merken, ist doch Porter oder nicht? Für jedes Teammitglied wollen wir das Trinkgeld vereinbaren. Charles kann sich nicht entschließen, irgendeine Summe zu nennen. Er verlässt uns noch einmal und verspricht wiederzukommen. James hat längst das Geschirr abgeräumt. Wir sitzen noch beim Tee und lassen zufrieden den Tag Revue passieren.
Charles bringt zu meiner Überraschung seinen Assistenten mit. Das ist ungewöhnlich. Sie setzen sich zu uns. Die Porter der anderen Gruppen stehen sich unterhaltend in dem Raum zwischen den Tischen im Wege. Selbstverständlich ist der Aufstieg unser Thema. Godlizem äußert sich äußerst bewundernd über meine von ihm beobachtete Kälteunempfindlichkeit. Warum habe ich oben auf dem Gipfel nur meine warmen Handschuhe ausgezogen und die ganze Zeit in der Tasche getragen, wo es doch dort oben so schrecklich kalt war?
Ich merke nichts und prahle voller Stolz mit meinen Schlittenfahrten am nördlichen Polarkreis. Da stand ich auch bei beißender Kälte lange Zeit ohne Handschuhe auf meinem Hundeschlitten. Das kann er nicht verstehen und schüttelt bewundernd seinen Kopf und ich begreife immer noch nichts. Jutta und Charles versuchen unterdessen auf dem Stück Stanniolpapier das Trinkgeld für unsere Mannschaft auszuknobeln. Sie kommen heute zu keiner Lösung.
Heute Abend wird es spät. Charles will uns morgen früh vor sechs Uhr wecken lassen und um halb sieben aufbrechen. Auf dem Rückweg drängt er schon die ganze Zeit zur Eile. Hakuna matata! Wir verspüren keine Lust, uns antreiben zu lassen. Wir einigen uns auf Wecken um halb sieben. Unsere beiden Führer gehen vor uns zurück zu ihrer Unterkunft. Vor der Tür wartet der arme James. Wir haben ihn vergessen. Erst jetzt kann er den Tisch zu Ende abräumen.
Meine Lampe liegt in unserer Hütte. Scherzend stolpern wir durch die Dunkelheit auf dem mit Felsbrocken übersäten Weg zu unserem Nachtlager. Welche der Hütten ist denn nun unsere? Kurz vor dem Einschlafen geht mir ein Licht auf. Natürlich, Charles hat doch Ausrüstungsgegenstände bekommen und Godlizem ist sein Neffe!
Am nächsten Morgen weiß ich immer noch nicht, warum Charles so drängelt. Bisher waren wir immer artig und pünktlich fertig. Heute trödeln wir und müssen fast unter Aufsicht unsere Sachen packen. Jutta hatte auf dem Zigarettenpapier hinter jedes Teammitglied einen Betrag geschrieben und zeigt es jetzt Charles. Er ist nicht einverstanden und erst jetzt schreibt er seine Zahlen daneben. Beide feilschen nur ein wenig, ich bin einverstanden, dann ist auch er zufrieden. Alle Porter stehen vor der Tür, auch Godlizem. Er schaut aufmerksam zu, wie Jutta und ich in der Hütte unsere Seesäcke packen. Ich blicke unter meinen Armen hindurch zu ihm hinüber. Mit zufriedenem Lächeln fängt er meine warmen Fleece-Handschuhe auf.
Charles treibt uns alle an. Selbst das Beten vergisst er heute. Das Gepäck ist verteilt, geschäftig verschwinden die Porter hinter den Hütten. Wir übrig gebliebenen Vier verlassen das uns vertraute Horombo Hut. Ein letzter Blick zurück auf den Kilimanjaro, dann steigen wir ab zu der kleinen Brücke, vorbei an den großen Senecien und wieder aufwärts den Hügel hinauf.
Zur Mandara Hut werden wir noch mehrere Hügel besteigen und Täler durchqueren. Heute ist es fast ein Spaziergang. Jutta und ich, wir brauchen keine Medikamente, haben überhaupt keine Verletzungen und sind nicht krank geworden. Die Erschöpfung war ganz normal. Jetzt laufen wir beide locker und beschwingt voran. Godlizem trägt seinen schweren Rucksack, Charles den Daypack von „strong mama“ und ich spüre mein Gepäck überhaupt nicht.
Fröhlich plaudernd laufen wir durch den Morgen. Der Himmel ist bedeckt, es ist warm und gelegentlich scheint die Sonne durch die Wolken. In der feuchten Erde finde ich frische Spuren des kleinen Dik Dik. Weiter unten sehe ich Pfotenabdrücke im nassen Sand des Weges. Ich rufe Charles hinzu. Er identifiziert sie als Abdrücke eines hier vorkommenden Wildhundes. Zu gerne würde ich beide Tiere sehen und halte vergeblich nach ihnen Ausschau.
Charles verspricht uns, auf dem Rückweg den kleinen Umweg zum Maundi Crater zu machen. Unsere beiden Begleiter sind unruhig und Godlizem läuft mir mehrfach fast in die Hacken. Jutta behält ihre Ruhe und an allen schönen Blumen und Sträuchern machen wir Halt. Hakuna matata – wir haben den Gipfel bezwungen und wir sind die zahlenden Gäste. Das kenn ich ja gar nicht an ihr. Sonst ist das doch mein Part.
Wie schnell wir das Moorland durchquert haben. Auf den glatten roten Wegen kommen wir ohne Mühe geschwind voran. Da vorne sind schon die ersten Bäume des Regenwaldes zu erkennen. Charles ruft Godlizem etwas zu und biegt scharf nach links ab auf einen kaum erkennbaren Pfad durch hohes Gras. Nach wenigen Schritten gelangen wir an den Fuß des Kraters. Jetzt müssen wir doch tatsächlich noch einmal über einen steilen, matschigen Waldweg aufsteigen.
Wir klettern über Wurzeln, oben angekommen schauen wir in den unscheinbaren grasbewachsenen Maundi Crater. Auf dem Abhang stehen malerische moosbewachsene kleine Bäume. Unten auf dem Grund leben Schlangen, große Pythons, erklärt Charles und springt wieder vor die gezückte Kamera. Wir gehen auf dem Kraterrand weiter, ohne nach Schlangen zu suchen. Einen dicken, vollgefressenen Python werden wir später auf unserer Safari zu Gesicht bekommen.
Auf der anderen Seite des Kraters, hinter der tiefen Schlucht mit den bemoosten Bäumen und den giftigen Schlangen, verborgen durch die dichten Wolken liegt Kenia. Bei gutem Wetter soll man die großen Häuser der Grenzstation erkennen können. Jetzt hasten wir auf dem Rand des kleinen Kraters weiter. Jutta bemerkt als Erste an der Stelle unseres Aufstieges, dass Charles sich verlaufen hat. Godlizem ruft ihm etwas zu, er zögert kurz, fängt sich und erzählt etwas von fast vollständig umrundet, weiterzugehen sei nicht interessant und kehrt um.
Der Wind frischt auf und es fängt wieder an zu regnen. Unsere Regenjacken sind schnell angezogen. Wir finden den richtigen Abstieg. Auf einer Lichtung, kurz vor dem Wald zeigt uns Charles eine eigenartige Pflanze. Die dünnen verzweigten Ranken haben eine noppenartige hellgrüne Rinde. Früher wurden aus dieser besonderen Pflanze den erfolgreichen Bergführern nach ihrer Prüfung Kronen geflochten. Die Geschichte entschädigt uns für seinen kleinen Patzer. Wir formieren uns wieder und tauchen ein in den Regenwald.
Kurz vor Mandara Hut hört es auf zu regnen. In den lichten Ausläufern des Regenwaldes, knapp oberhalb des Lagers sehe ich schwarz-weiße Colobus Affen durch die Bäume turnen, endlich. Die langen schneeweißen Fransen ihres Felles wirken wie ein Umhang um ihren tiefschwarzen Körper. Ihr schwarzes Gesicht ist ebenfalls weiß umrahmt. Eine Familie mit kleinen jungen Tieren klettert durch die Bäume. Ruhig sitzen sie auf den Ästen und vertilgen ihr Frühstück. Schön, dass wir sie doch noch gefunden haben. Jutta versucht, sie mit aufgeschraubtem Tele einzufangen. Für meine Kamera sind sie zu weit weg.
Unsere beiden Führer warten geduldig, bis wir fertig sind mit unseren Experimenten. Willi und seine Truppe holten auf. Vor unserem Abstecher hatten wir sie wieder einmal hinter uns gelassen. Ich zeige ihnen noch die Affen, Willi geht es nicht gut und er findet sie nicht sofort, dann gehen wir weiter. Wir durchqueren das Camp und halten uns nicht weiter auf, Charles drängt zur Eile. Die dichter werdenden Wolken werden immer dunkler. Natürlich, Charles will vor dem großen Regen unten sein. Es wird uns nicht gelingen. Nach wenigen Minuten im Regenwald lernen wir ihn kennen, den tropischen Regen.
Jetzt müssen wir aufpassen. Die Wege werden glitschig. Der dichte Regen und die dicken Tropfen von den Blättern machen mir nichts aus. Nur ausrutschen und hinfallen will ich nicht. Jutta ist immer noch fröhlich und läuft unbeschwert voraus. Charles hat einen Knirps aus seinem Gepäck geholt. Er sieht putzig aus mit seinem kleinen Regenschirm, der großen Regenjacke, den sehnigen schwarzbraunen Beinen in der kurzen Hose und den dicken Bergstiefeln an den Füßen. Er ist nicht so tiefschwarz wie Godlizem, der nicht den fröhlichsten Eindruck macht.
Wir kommen an all den interessanten Stellen unseres Aufstiegs vorbei. Wie lange ist das schon her? Was ist in der Zwischenzeit nicht alles passiert? Die meisten Blüten sind geschlossen. Tiere sind nicht zu sehen. Schneller als erwartet erreichen wir die letzte Brücke kurz vor dem Parkeingang, dort wo die kleinen Mädchen nach Sweeties fragten. An der Wegbiegung vor der Brücke suchen zwei alte Männer unter einem Baum Schutz vor dem Regen und halten uns zaghaft und stumm Ansichtskarten entgegen. Etwas abseits steht ein kleiner Junge im Regen.
Da vorne sehe ich schon die grünen Dächer des Head Quarters, das Wiegehäuschen und das spitze Eingangstor. Gemessenen Schrittes durchquere ich die schmale Pforte. Geschafft, nach zwei Tagen Abstieg und überwundenen viertausend Höhenmetern sind wir wieder unten am Mandara Gate!
Godlizem verschwindet auf dem im Regen glänzenden breiten Fahrweg in Richtung Parkplatz. Charles läuft die wenigen Stufen zur Reception voraus. Wir folgen unserem Guide durch den jetzt wieder heftigeren Regen. Unter dem Vordach des Empfangsgebäudes sucht ein junger Soldat Schutz im Trocknen. Soll seine Kalaschnikow etwa nicht nass werden?
Charles spricht mit dem Ranger und erläutert ihm unsere erreichten Ziele. Zu uns gewandt quittiert dieser es mit anerkennendem Lächeln. Zuerst fordert er mich auf, meine Daten in das große Buch einzutragen und mit Unterschrift zu bestätigen – Uhuru Peak! Von meiner Regenjacke läuft das Wasser über meine Hand auf die dicke Kladde. Dann ist Jutta an der Reihe, auch geschafft – Gilman’s Point! Zum Schluss bekommt Charles zwei vorbereitete Urkunden ausgehändigt. Für jeden Gipfel eine andere Ausfertigung. Sorgfältig verstaut er sie in einer schwarzen Plastiktüte als Schutz vor dem Regen.
In dem Unterstand oberhalb des Parkplatzes auf der mittleren Terrasse des Head Quarters warten unsere Porter. In dem Unterstand stehen noch andere Träger fröstelnd in ihren nassen Sachen herum. Charles hat Jutta genau instruiert, in welcher Reihenfolge sie das Trinkgeld verteilen soll. Unsere Mannschaft wird sich noch etwas gedulden müssen. Jetzt positioniere ich das Team zum Gruppenbild. Der kleine Halbwüchsige wird noch nach vorne in die erste Reihe geholt, ich stelle mich neben Charles, klick und überstanden ist es.
Das ganze Team verfolgt mit angespannten Blicken jede von Juttas Bewegungen. Sie zieht die vorbereiteten Geldbündel einzelnen aus ihrer Hosentasche. Jeder bekommt sein abgezähltes Bündelchen, erst Godlizem, dann James, dann hinten der große Schlanke, zum Schluss der kleine Kräftige. Sie strahlen allesamt. Charles nimmt des Cookers Anteil an sich. Er zieht mich zur Seite und erklärt mir, der Waiter, äh Cooker, ist oben geblieben, um die Töpfe zu reinigen und die Unterkunft aufzuräumen. Macht doch nichts, ich hab’s doch schon oben gemerkt. Es war ein harter Job, da ist auch noch ein Trinkgeld für einen Cooker drin.
Wir verabschieden uns von jedem einzelnen mit freundlichen Worten, verteilen noch unsere Lunchpakete und steigen in den bereitstehenden Wagen. Jutta und ich, wir sind den Männern unendlich dankbar. Überglücklich rollen wir langsam vom Parkplatz. Charles hatte nicht wie versprochen unser gemeinsames Gebet nachgeholt. Ich lasse den Fahrer am Straßenrand anhalten und spreche mit fast versagender Stimme mein tief empfundenes Dankgebet in deutscher Sprache. Jutta schaut mich mit tränenfeuchten Augen an und drückt meine Hand. Wir haben unseren Traum verwirklichen dürfen. Wir haben den Kilimanjaro erklommen, den höchsten Berg Afrikas!
Safari Njema! – Gute Reise!
Auf der Autofahrt zurück zum Hotel sehen wir die nassen glänzenden Blätter der Bananenstauden. Gelbe Sträucher und rote Bouganvilien leuchten durch den Regen. Trotz des Regens sind viele Leute unterwegs. Im Key’s Hotel angekommen, beziehen wir Zimmer 111, den Gang hinunter, weit weg von der Küche. Wir waschen uns schnell und machen uns etwas frisch. Ich schaue in den Spiegel und sehe zum ersten Mal seit Tagen mein bärtiges Gesicht. Charles wartet unten in der Bar auf uns.
Niedernhausen, Februar 2004
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